Artikel von Dörte Martens in der Gartenmagazin Parzelle, Ausgabe 3
Das freie Spiel in der Natur ist wichtig für die kindliche Entwicklung. Gärten und Naturerfahrungsräume laden
Kinder zur Mitgestaltung ein. Wer erinnert sich nicht gern daran, als Kind um Häuser oder durch Wälder gestreift zu sein, auf der Suche nach Abenteuer und Freiheit? Tatsächlich ist diese Erfahrung zentral in der kindlichen Entwicklung: das Gefühl Autonomie zu entwickeln und gleichzeitig die Grenzen der eigenen Möglichkeiten zu erfahren. Natürliche Umwelten wie Gärten, Wälder oder Wiesen regen dazu an, in Phantasiewelten einzutauchen. An diesen Orten sind Kinder „weg“ aus der Welt der Erwachsenen, gedanklich wie räumlich.
Kinder haben das Bedürfnis nach Kontinuität und Vertrautheit, aber auch nach Veränderung und Abenteuer, was zunächst widersprüchlich erscheint. Gerade in der Natur zeigt sich, dass beide Bedrüfnisse gleichzeitig erfüllt werden können. Während ein Baum in einem Garten beispielsweise immer derselbe bleibt – er ist verlässlich da, das Kind erkennt ihn bei jedem Besuch wieder – verändert er sich dennoch permanent. Je nach Jahreszeit, Wetter oder Lichteinfall kann er freundlich oder bedrohlich wirken und erweckt die Neugier des Kindes. Es entdeckt im
Frühjahr die ersten Knospen, im Sommer Ameisenwege den Stamm hinauf, im Herbst den Laubfall und im Winter Schneekristalle an den Ästen. Damit stellt die Natur für die kindliche Entwicklung eine optimale Reizumgebung dar, da sie gleichzeitig Sicherheit und Abenteuer bietet.
Zahlreiche empirische Studien belegen den positiven Einfluss von Naturkontakt in der kindlichen Entwicklung. Dabei werden die folgenden Aspekte besonders hervorgehoben:
• Nach einem Naturbesuch steigt die Konzentrationsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen maßgeblich an.
• Kinder spielen in wilder natürlicher Umwelt besonders intensiv und in altersübergreifenden, sozialen Zusammenhängen.
• Kinder, die in einer natürlichen Umwelt aufwachsen, sind weniger anfällig für psychische Erkrankungen.
• Motorische Fähigkeiten werden in natürlicher Umwelt stärker als in gebauter Umwelt entwickelt.
• In einer natürlichen Umwelt gelingt der Abbau von Stress deutlich effizienter als in einer gebauten Umwelt.
Besonders in Städten zeigten sich in den letzten Jahrzehnten Tendenzen einer „Verhäuslichung“ von Kindern. Sie verbringen mehr Zeit „drinnen“, und das nicht nur durch den erhöhten Medienkonsum. Auch Nachmittagsbetreu-
ung und die häufige elterliche Begleitung zum Beispiel auf dem Schulweg führen dazu, dass Kinder immer weniger unbegleitet draußen in der Natur oder auf urbanen Brachen spielen. Damit haben sie weniger Gelegenheiten, die oben aufgeführten gesundheitlichen Wirkungen der natürlichen Umwelt zu erfahren. Die fehlende Naturerfahrung kann drastische negative Folgen für die körperliche, psychische und soziale
Entwicklung hervorrufen. Oft wird in diesem Zusammenhang auch von „Naturentfremdung“
oder „Naturdefizit-Störung“ gesprochen, die von der Symptomatik her starke Parallelen zu Aufmerksamkeitsstörungen aufweisen. Möglicherweise ist die fehlende Naturerfahrung eine maßgebliche Ursache für Aufmerksamkeitsstörungen.
Um diesen alarmierenden Tendenzen zu begegnen, braucht es eigentlich nicht viel, und gerade Städte wie Berlin haben mit ihren Grünflächen innerhalb der Stadt gute Voraussetzungen. Diese Grünflächen müssen erhalten werden und den Kindern sollten möglichst viele grüne Orte vorbehalten sein, denn sie brauchen Naturerfah-
rung für ihre gesunde Entwicklung. Anders als in Parks oder auf Spielplätzen haben Kinder in urbanen Gärten und in sogenannten Naturerfahrungsräumen die Möglichkeit, ihren Spielraum selbst zu gestalten. Naturerfahrungsräume sind relativ ungestaltete Naturräume, die zum Teil der freien Entwicklung überlassen werden und zum Teil extensiv gepflegt werden. Wohnortnah bieten sie Möglichkeiten für freies, selbstbestimmtes Spiel im kindlichen Alltag. Die Kinder greifen hier aktiv in ihre Umwelt ein, indem sie beispielsweise Hütten bauen. Durch diese Mitgestaltung erfahren sie Selbstwirksamkeit, das Verständnis dafür, Aufgaben selbst in die Hand zu nehmen und bewältigen zu können. Diese Erfahrung in der Kindheit ist eine wichtige Grundlage dafür, auch als Jugendliche und Erwachsene den Alltag bewältigen zu können. Auch Gärten, die sehr stark gestaltete Naturräu-
me sind, erlauben Naturerfahrungen und die Möglichkeit zur Mitgestaltung durch Kinder, die sich Spielorte wünschen, an denen sie selbst gestalten können. Bei der Aussaat von Pflanzen erfahren sie den Kreislauf des Lebens und erhalten Einblick in komplexe natürliche Zusammenhänge. In verwilderten Ecken eines Gartens können sie Abenteuer bestehen.
Wer Kindern Naturerfahrung beim Spiel im Garten ermöglichen will, plant bei der Gestaltung gezielt bestimmte Elemente ein: Bäume, liegende Baumstämme oder Findlinge als Kletterund Balanciermöglichkeit, verwilderte Bereiche mit Gebüsch oder Hecken, in denen Kinder sich verstecken können, loses Material wie Äste, Kies
und Lehm, das sie zur eigenen Gestaltung anregt. Damit die natürliche Umwelt ihre gesundheitsfördernde Wirkung für Stadtbewohner entfalten kann, müssen grüne Orte in der Stadt möglichst wohnortnah erhalten werden. Dabei muss die Stadtplanung unterschiedliche Interessen wohlüberlegt gegeneinander abwägen. Wie wichtig ist zum Beispiel ein Parkplatz für ein Privatauto gegenüber den langfristigen gesundheitlichen
Auswirkungen einer Stadt ohne ausreichende Grünflächen? Die autogerechte Stadt, wie sie früher propagiert wurde, wird längst selbst von Stadtplanenden belächelt. Es ist Zeit für den nächsten mutigen und konsequenten Schritt hin zu einer gesundheitsfördernden Stadt. Mit Gärten, Naturerfahrungsräumen und Möglichkeiten
der Mitgestaltung durch Kinder. Denn sie haben das Recht auf eine lebenswerte Umgebung in der Stadt der Zukunft.